Virtuelle Hauptversammlung sorgt für Diskussionen

Während der Corona-Pandemie fanden viele Hauptversammlungen virtuell statt. Eine Ausnahmeregelung machte es möglich. Nun ist dies auch dauerhaft erlaubt. Welche Vor- und Nachteile mit einer virtuellen Versammlung verbunden sind, erläutert Peter Christian Felst, Partner bei Mazars in Deutschland.

Mit der Pandemie hat sich die Digitalisierung in vielen Bereichen durchgesetzt. Auch virtuelle Hauptversammlungen waren dank einer Ausnahmeregelung möglich. Wegen der Kontaktverbote wären Hauptversammlungen sonst nicht zustande gekommen. Jetzt können Unternehmen dieses pandemiebewährte Instrument auch in Zukunft nutzen. Das sieht eine neue Regelung im Aktiengesetz vor. Unternehmen, die künftig eine virtuelle Hauptversammlung abhalten wollen, müssen eine Satzungsänderung beschließen. Sie gilt für die Dauer von fünf Jahren und kann dann erneuert werden. 

„Vor allem große börsennotierte Unternehmen mit einer Vielzahl von Gesellschafter*innen werden in Zukunft Hauptversammlungen virtuell abhalten“, sagt Peter Christian Felst. Laut einer Umfrage des Handelsblatts vom Januar 2023 unter den Unternehmen im Dax wollen 17 Gesellschaften eine virtuelle Veranstaltung veranstalten, während sieben ihre Hauptversammlung in Präsenz abhalten wollen.

Anders dagegen ist die Lage bei Aktiengesellschaften wie Familienunternehmen mit wenigen Gesellschafter*innen. „Hauptversammlungen werden weiter in Präsenz stattfinden. Schließlich sind diese Veranstaltungen ein Ort für den persönlichen Austausch“, sagt Felst. Ähnlich sieht es bei „Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit“ aus. Dabei handelt es sich um eine Rechtsform für Versicherer, die dem Aktienrecht unterliegt. Viele haben nach Corona ihre Hauptversammlungen wieder auf Präsenzveranstaltungen umgestellt. Auch hier steht die persönliche Begegnung im Vordergrund.

Virtuelle Hauptversammlungen sind günstiger

Eine größere Präsenz der Aktionär*innen zählt zu den Vorteilen einer virtuellen Hauptversammlung. Sie können vom heimischen Computer an der Hauptversammlung teilnehmen und müssen nicht anreisen. Das spart Reisekosten. Auch für die Aktiengesellschaft ist die Versammlung deutlich günstiger. Im Vergleich zu einer Präsenzveranstaltung sinken die Kosten um 25 bis 50 Prozent. Der personelle Aufwand ist geringer, Saalmieten fallen nicht an, die Kosten fürs Catering und Zugangskontrollen entfallen. Mit einer virtuellen Hauptversammlung können sich Unternehmen zudem einen modernen, digitalen Anstrich geben.

„Aus Sicht des Unternehmens lässt sich der Verlauf besser kontrollieren. Es gibt keine Kommunikation zwischen den Aktionär*innen und weniger Störungen“, erläutert Felst. Zum Teil müssen Aktionär*innen Fragen drei Tage vorab einreichen. Es gibt zwar auch Nachfragerechte, aber eine Beschneidung auf vor und in der Versammlung gegebene Antworten ist möglich. Ausufernde Diskussionen und Redebeiträge fallen im virtuellen Format weniger häufig an. Virtuelle Hauptversammlungen sind in der Regel kürzer, sparen Ressourcen und sind in diesem Sinne auch nachhaltiger. Der CO2-Fußabdruck des Unternehmens sinkt somit. Das ist ein wichtiges Argument für börsennotierte Aktiengesellschaften, die über ihre Nachhaltigkeit berichten müssen.

Erhöhte Risiken durch technische Störungen

Zu den Nachteilen einer virtuellen Hauptversammlung zählen höhere technische Risiken. So wie es im Februar 2023 bei der Hauptversammlung der TUI Group der Fall war, als die Versammlung und die Diskussion für zwei Stunden unterbrochen werden mussten. Grund dafür war eine Störung im technischen System eines externen Dienstleisters. Auch die Gefahr eines Cyberangriffs ist nicht zu unterschätzen. Im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben Cyberattacken insgesamt zugenommen.
Der Verlust von spontaner Dynamik und Austauschmöglichkeit ist gut für Aufsichtsrat und Vorstand, weil sich so der Ablauf der Hauptversammlung besser kontrollieren lässt, aber schlecht für Aktionär*innen. Sie haben ein Interesse am direkten Austausch mit dem Vorstand. Wie schon erwähnt, müssen Fragen schon drei Tage vorab eingereicht werden, wenn der Vorstand das so beschließt. Damit hätten Aktionär*innen das Gefühl, in ihren Rede- und Fragerechten beschnitten zu werden, erklärt Felst: „Vorstände wollen möglichst viel vorverlagern, um wenig Risiken auf der virtuellen Hauptversammlung einzugehen.“

Ein weiterer potenzieller Nachteil: Teilnehmer*innen einer virtuellen Hauptversammlung können einen Beschluss im Wege der elektronischen Kommunikation anfechten. „Das geht dann einfach durch Drücken des entsprechenden Buttons. Daher besteht die Gefahr, dass übermäßig oft Widerspruch eingelegt wird“, meint Felst. Nach wie vor herrscht eine intensive Debatte zwischen Fondsgesellschaften, die die Aktionärsrechte der Fondsinhaber*innen vertreten, und den Vorständen darüber, wie die Vorverlagerung von Fragerechten und Antwortpflichten bei einer virtuellen Hauptversammlung zu werten ist.

Rechtsprechung steht noch aus

Die virtuelle Hauptversammlung ist nach wie vor Neuland. „Ich beobachte ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit und Anfechtungsrisiken. Es fehlt an Rechtsprechung und höchstrichterlichen Urteilen“, sagt Felst. Bislang gibt es nur zwei wissenschaftliche Kommentare, die sich mit dem Thema beschäftigen. Insofern werden die nächsten Jahre zeigen, wie sich die virtuelle Hauptversammlung in der Praxis etablieren wird. Rechtsunsicherheiten bestehen auch im Zusammenhang mit Änderungen der Aktionärsrechte, zum Beispiel im Hinblick auf das Live-Fragerecht. Beim Vorverlagerungsmodell sind spontan nur Fragen möglich, die sich in den drei Tagen vor der Hauptversammlung ergeben haben.
Für den Aufsichtsrat hat die Einberufung einer virtuellen Hauptversammlung keine unmittelbaren Folgen. Nach wie vor ist der*die Vorsitzende des Aufsichtsrats Leiter*in der Versammlung. Es gilt, die Veranstaltung so zu moderieren, dass Aktionärsrechte gewahrt werden. So lassen sich anfechtungsrelevante Fehlentscheidungen verhindern. Wie bei einer Hauptversammlung mit physischer Präsenz muss der*die Vorsitzende des Aufsichtsrats für einen geordneten Ablauf der Hauptversammlung sorgen.

 

Board Briefing