ESG-Rating: Etikett mit Tücken

Viele Anbieter von Nachhaltigkeitsratings halten sich bedeckt, wenn es um die Transparenz ihrer Arbeit geht. Die Bedeutung der Bewertungen, die von unabhängigen Agenturen vergeben werden, ist daher zuletzt gesunken. Aber Unternehmen, die über ein ESG-Rating nachdenken, können die Ungleichheiten am Markt auch strategisch nutzen.

ESG-Ratings verlieren an Bedeutung bei nachhaltigen Finanzierungsmodellen. Das jedenfalls ist eines der Ergebnisse, die eine aktuelle Studie des Fachmagazins „Finance“ und der LBBW zu Tage gefördert hat. So ist es inzwischen zwar Standard, dass Investor*innen beziehungsweise kreditgebende Banken grüne Finanzierungen an bestimmte Key-Performance-Indikatoren (KPIs) koppeln. 47 Prozent der befragten Unternehmensentscheider*innen bevorzugen dabei jedoch individuell festgelegte Kennzahlen, anstatt ein Nachhaltigkeits-Rating zu beauftragen.  

Ähnlich wie bei Kreditratings übernehmen spezielle Agenturen eine Bewertung der nichtfinanziellen Leistung eines Unternehmens (Environmental, Social, Governance). Dabei wird unterschieden zwischen beauftragten (solicited) Ratings und nicht beauftragten (unsolicited) Ratings. Die großen Konzerne etwa im DAX 40 werden automatisch von den ESG-Agenturen gerated. Sie haben also oft keinen Einfluss darauf, ob und wann ein Nachhaltigkeitsrating vorgenommen wird. Auch bei den Kreditagenturen ist inzwischen üblich, ein ESG-Profil in die Bonitätsanalysen zu integrieren. Eher kleinere Mittelständler außerhalb der Börse müssen jedoch von sich aus eine ESG-Bewertung in Auftrag geben. Ohne ein solches Rating war es für sie bislang nur schwer möglich, eine nachhaltige Finanzierung zu bekommen.

Markt für ESG-Ratings ist in vielerlei Hinsicht unübersichtlich

Das Problem dabei: Jede ESG-Rating-Agentur verwendet ihre eigene, subjektive Bewertungsmethodik. Für Stakeholder wird es damit zunehmend schwierig, sich im ESG-Rating-Kosmos zu orientieren. Nach einer Erhebung des Deutschen Investor Relations Verbandes (DIRK) von vor zwei Jahren gibt es rund 80 Organisationen, die entsprechende Ratings, Zertifikate oder Siegel erstellen. „Aber die Methodik der einzelnen Agenturen variiert. Dadurch sind die Ergebnisse untereinander nur bedingt vergleichbar“, hebt Ariane Hofstetter, Head of ESG Research & Analytics beim Investor-Relations-Beratungsunternehmen Cometis, hervor. „Das ist insofern kritisch zu sehen, als dass ESG-Ratings großen Einfluss auf Investorenentscheidungen haben.“ Die Expertin hat zudem lange Zeit große Transparenzlücken in Bezug auf die Methodiken festgestellt. Für Investor*innen und Banken macht das die Reliabilität, Objektivität und Validität der Nachhaltigkeitsurteile schwer nachvollziehbar, vor allem aber mit den Urteilen anderer Anbieter unzureichend vergleichbar. „Damit wird der eigentliche Sinn der Ratings konterkariert. Statt Entscheidungshilfe zu bieten, müssen Investor*innen neben anderen Stakeholdern berücksichtigen, welche Schwerpunkte einzelne Agenturen setzen und welche möglichen Verzerrungen sich daraus ergeben“, gibt Hofstetter zu bedenken. „Es geht auch nicht nur um die Unterschiede in der Methodik, die zweifellos auch bestehen. Es gibt zwischen den verschiedenen Ratings Unterschiede im thematischen Fokus, der mal beim E, bei anderen beim G oder S liegt“, ergänzt Philipp Killius, Partner bei der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Mazars und dort Head of Sustainability/ESG. „Daten, KPIs und strategische Zielsetzungen sind jedoch durchaus vergleichbar, wenn man die Bewertungsergebnisse analysiert und diese unterschiedliche Gewichtung berücksichtigt.“

Regulierung der Agenturen setzt erst langsam ein

Zwar gibt es Empfehlungen zur Methodik der Agenturen – wie zum Beispiel die Principles for Responsible Investment (PRI), eine von den Vereinten Nationen (UN) unterstützte globale Initiative, aber auch die Offenlegungsverordnung. Erstgenanntes Regelwerk gibt unter anderem vor, was ein Rating bieten muss – zum Beispiel eine bestimmte Datenqualität und Transparenz, Unabhängigkeit und Konsistenz. „Aber diese Regeln sind lange nicht beachtet worden, sodass wir immer wieder Transparenz bei den Methodiken in den Dialogen mit den Agenturen anmahnen mussten“, bemängelt die ESG-Expertin. „Das liegt auch daran, dass die Zahl der Player, die sich dem Regelwerk verschreiben, erst seit wenigen Jahren rasant zunimmt.“ Aus anfänglichen 100 Unterzeichner*innen der Principles for Responsible Investment im Jahr 2006 sind inzwischen mehr als 4.000 Befürworter*innen aus 80 Ländern mit den verwalteten Vermögen von mehr als 100 Millionen US-Dollar geworden. „Das ist ein ganz anderer Druck, der daraus hervorgeht, als noch vor einigen Jahren“, sagt Hofstetter.

Speziell in Europa beobachtet sie zudem auf politischer Ebene Initiativen, die ESG-Agenturen zu regulieren und damit ihre Macht zu beschneiden. „Man sieht aber erst seit Ende vergangenen Jahres, dass der Druck daraus auch wirklich zum Tragen kommt – beispielsweise enthalten die aktuellen Ratings auf einmal einen sehr großen Methodenteil, der mitgeliefert wird. Aber auch bei den Disclosures werden Stakeholder mit Informationen überschüttet“, stellt sie fest. „Damit ist eine Situation eingetreten, wie man sie auch vom Autokauf kennt: Interessierte werden mit Daten und Inhalten überflutet – und am Ende kann kaum noch einer abschätzen, was damit ausgesagt wird.“

Viele Anbieter von ESG-Ratings nutzen nicht nur die Expertise ihrer Analyst*innen, sondern arbeiten zudem vermehrt mit Künstlicher Intelligenz (KI) bei der Datensammlung. Der Haken dabei: Es gibt keine Qualitätskontrolle für diese noch jungen Systeme etwa nach dem Vorbild des TÜV. Marktbeobachter*innen gehen daher davon aus, dass nicht jedes dieser Programme ausgereift genug ist. Damit jedoch produzieren die KI-Systeme regelmäßig Verzerrungen, die eine wesentliche Grundlage für das abschließende Rating bilden.

Genauer Blick auf die unterschiedlichen ESG-Methodiken lohnt

Mazars Experte Killius empfiehlt daher, dass sich Unternehmen bei der Auswahl einer Ratingagentur Zeit nehmen sollten. „Es gilt, sich vor der Beauftragung Gedanken darüber zu machen, welche Zwecke man mit der Bewertung erreichen und welche Stakeholdergruppen damit angesprochen werden sollen. Es gibt Ratings, die zielen stärker auf das Feld Governance ab. Andere setzen eher einen Schwerpunkt bei den Daten zum E, also der Umwelt“, so der Head of Sustainability/ESG. Wer als Unternehmens- oder Nachhaltigkeitsverantwortliche*r diese Fokussierung kennt und die in der Firma vorhandene Datenbasis damit abgleicht, kann somit das Ergebnis ein Stück weit steuern. „Die Grundtendenzen der Kriterienkataloge und Methodiken lassen sich inzwischen über öffentlich zugängliche Informationen vergleichsweise gut recherchieren“, sagt er. „Sinnvoller ist es allerdings, wenn sich Unternehmensverantwortliche zunächst die eigenen Motive bewusst machen.“ Mithilfe qualifizierter Berater*innen können sie sich danach die thematischen ESG-Schwerpunkte einzelner Agenturen zunutze machen, um gezielt den Auftrag zu vergeben. Killius: „Die Verantwortlichen wissen damit, welche Dokumente und Daten sie aufbereiten und höchstwahrscheinlich zur Verfügung stellen müssen. Dadurch erhöhen sie ihre Chance, an ein gutes Rating zu kommen. Zusätzlich können sie mit dem Durchlaufen eines Rating-Prozesses ihrer unternehmerischen Nachhaltigkeitsleistung Auftrieb verleihen, indem sie bestehende Stärken weiter ausbauen und identifizierte Verbesserungspotentiale systematisch angehen.“

 

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