„KI-Einführung benötigt viel menschliches Wissen“

Selbstlernende Software-Anwendungen machen es möglich: Innerhalb der nächsten fünf Jahre werden KI-Systeme in Finanzabteilungen von Unternehmen autonom arbeiten können. Die Hoffnung ist, dass dadurch Abläufe optimiert, Echtzeitanalysen und Prognosen besser und Finanzstrategien flexibler werden. Auf dem Weg dorthin sind vor allem die CFOs und ihre Mitarbeiter*innen gefragt. Christian Sengewald, Wirtschaftsinformatiker und Partner bei Mazars, erklärt, wie Unternehmen den Weg zur autonomen Finanzabteilung bestmöglich gestalten.

Einer aktuellen Umfrage der Unternehmensberatung Gartner zufolge glauben 60 Prozent der CFOs weltweit, dass durch die rasante Entwicklung bei den KI-Systemen Finanzabteilungen in den meisten Unternehmen innerhalb von fünf bis sechs Jahren weitgehend ohne menschliches Zutun auskommen werden. Ist das realistisch?

Ja, denn schon heute existieren die meisten Technologien, um diesem Ziel nahe zu kommen. Einige der Systeme selbst müssen – mit menschlicher Begleitung – natürlich noch lernen. Mit Blick auf die erstaunliche Geschwindigkeit, in der sich unter anderem KI-Systeme entwickeln, die einen maßgeblichen Beitrag leisten werden, um die notwendigen menschlichen Interaktionen zu reduzieren, erscheint ein solcher Zeitraum durchaus realistisch.

Worin besteht der Unterschied zwischen einer automatisierten und einer autonomen Finanzabteilung?

Die autonome Finanzabteilung unterscheidet sich von der automatisierten vornehmlich darin, auch unter Unsicherheit – und nicht nach vorher definierten Regeln – selbstständig, also ohne menschlichen Eingriff, zu handeln.

Wie gut sind die deutschen Unternehmen auf diese Entwicklung vorbereitet?

Viele Schritte im Finanzwesen sind bereits heute schon automatisiert. Systeme verarbeiten vorhandene Daten, treffen regelbasierte Entscheidungen – insbesondere für Standardgeschäftsvorfälle. Allerdings ist an sehr vielen Stellen noch der Mensch in die Abläufe eingebunden, um Sachverhalte zu validieren und um Sonderfälle abzufangen, welche die Systeme regelbasiert zumindest heute noch nicht bearbeiten können. Der Grad dieser Automatisierung von Prozessen ist sehr unterschiedlich. Einige Unternehmen sind schon heute sehr weit, insbesondere im transaktionalen Bereich, andere sind aus unterschiedlichen Gründen noch zurückhaltender. Aber Finanzprozesse zu automatisieren, ist der erste Schritt hin zu selbstständig arbeitenden, also autonomen Systemen. Und in Teilbereichen müssen Unternehmen diesen ersten Schritt der Automatisierung jetzt gehen.

Inwiefern? Gibt es gesetzliche Vorgaben?

Zum 1. Januar 2025 wird beispielsweise die E-Rechnung im B2B-Bereich zur Pflicht. Das ist ein aktuelles Beispiel dafür, dass auch der Gesetzgeber Impulse aus unterschiedlichen Beweggründen setzt.

Dann ist das also eigentlich jetzt der ideale Zeitpunkt für die Unternehmen, sich auf den Weg zu machen?

Spätestens jetzt. Zumindest sollte es das Ziel sein, möglichst viele Prozesse, wenn nicht sogar alle, perspektivisch auf solche autonom agierenden Systeme zu stützen. Die Eingangsverarbeitung und der kreditorische Bereich bieten sich hier sicherlich als Erste an, da es sich um sehr stark regelbasierte Prozesse handelt. In der Übergangsphase ist dabei weiterhin menschliches Wissen und Mitarbeit nötig. Aber die Technologien, die diese Prozesse so autonom bearbeiten, dass wirklich nur noch in absoluten Ausnahmefällen ein menschliches Eingreifen notwendig wird, stehen vor der Tür und müssen nur sinnvoll ineinander integriert werden.

Können Finanzabteilungen diesen Übergang allein bewältigen?

Zunächst einmal geht es darum, dass Finanzabteilungen im Unternehmen ein Bewusstsein dafür schaffen, was sie tun und wie komplex diese Aufgaben sind. Es geht ja nicht nur darum, Zahlen von A nach B zu verschieben. Finanzabteilungen verarbeiten Informationen aus Transaktionen, die in allen Abteilungen eines Unternehmens entstehen. Um die gesamte Prozesskette darzustellen und in einem nächsten Schritt zu digitalisieren, ist sicherlich die Mitarbeit aller betroffenen Abteilungen notwendig.

Solche Veränderungen sind oft mit Vorbehalten und auch Ängsten verbunden. Wie kann Vertrauen in KI-gesteuerte Prozesse entstehen?

Vertrauen braucht es an allen Stellen – bei der Geschäftsleitung und der Unternehmensführung und gleichermaßen bei den Mitarbeiter*innen. Meines Erachtens ist es deshalb extrem wichtig, die Menschen in diesem Prozess mitzunehmen. Vor allem die unmittelbar betroffenen Mitarbeiter*innen müssen verstehen, dass der Weg zur autonomen Buchhaltung und Finanzabteilung ihnen große Vorteile bringt. Denn es geht darum, Routineaufgaben zu automatisieren, damit die Mitarbeiter*innen in den Buchhaltungen sich anderen wichtigen Aufgaben widmen können, die für das Unternehmen einen größeren Mehrwert generieren. Und auf dem Weg dorthin werden die Mitwirkung der Mitarbeiter*innen und ihr großes Fachwissen über die Prozesse und das Spezifische des Unternehmens dringend gebraucht.

Unabhängig von der Unternehmensgröße und den verfügbaren Ressourcen: Ist es eine große Aufgabe, plötzlich alle Prozesse digitalisieren zu müssen?

Ja, das ist es. Deswegen sollten Unternehmen in einem ersten Schritt Leuchtturmprojekte definieren und den Verlauf wie auch den Erfolg dieser Projekte genau dokumentieren und im Unternehmen kommunizieren. Daraus lernen die Abteilungen, sie können Kompetenzen aufbauen und die Erkenntnisse auf Folgeprojekte ausweiten. So ergibt sich fast von selbst eine Art Fahrplan, um die Prozesse autonom zu gestalten.

Und es lassen sich so auch Vorbehalte bei den Mitarbeiter*innen abbauen, die Angst um ihre Arbeitsplätze haben?

Genau. Gerade solche Leuchtturmprojekte zeigen, dass es nicht um Arbeitsplatzabbau geht, sondern dass die Mitarbeiter*innen in diesen Veränderungsprozess gestaltend mit eingebunden werden. Digitalisierung und Automatisierung werden sie von repetitiven und trivialen Aufgaben entlasten. Sicherlich werden nicht immer adäquate neue Aufgabenfelder entstehen. Es werden sich aber Chancen für anders und neu gestaltete Tätigkeiten auftun. Und Mitarbeiter*innen, die plötzlich kreative Freiräume entdecken, sind motiviert, diese Möglichkeiten neuer strategischer und wertschöpfender Tätigkeiten zu nutzen. Für sich selbst und zum Vorteil für ihr Unternehmen.