Wenn der Aufsichtsrat die Zielkonflikte wie in einer Erbengemeinschaft lösen muss

Der Aufsichtsrat muss stets das Gesamtwohl des Unternehmens im Fokus haben. Wenn die Firma Ziel eines Übernahmeangebots wird, gilt es jedoch, auch die Interessen der einzelnen Bezugsgruppen unter einen Hut zu bringen. Besonders die Motive der Aktionär*innen sind nicht unerheblich.

Ein Übernahmeangebot stellt den Aufsichtsrat des Zielunternehmens vor besondere Herausforderungen. Das gilt vor allem dann, wenn es sich um einen Unfriendly Takeover-Versuch handelt oder unerwartet ein*e zweite*r Kaufinteressent*in in den Bieterprozess einsteigt. Für die Organmitglieder gilt es dann, die unterschiedlichen Belange sorgfältig abzuwägen.

An erster Stelle steht in jedem Fall das Wohl des eigenen Unternehmens. Allerdings dürfen die Interessen der Aktionär*innen, denen der Aufsichtsrat zu Treu und Glaube verpflichtet ist, nicht völlig außer Acht gelassen werden. Das führt immer wieder zu Zielkonflikten, weil die Anteilseigner*innen in erster Linie an einem möglichst hohen (Übernahme-)Preis interessiert sind. Was aber, wenn der*die potenzielle Käufer*in, der*die das höchste Gebot nennt, strategisch die Zerschlagung oder Auflösung des Unternehmens verfolgt?

Aufsichtsräte im Zielkonflikt – ein Beispielfall

Dazu beispielhaft dieser Fall: Ein*e Finanzinvestor*in kauft über die Börse eine große Zahl von Anteilen an einem deutschen Technologieunternehmen. Er*Sie macht seine*ihre Beteiligung im Rahmen der Transparenzpflichten öffentlich. Management und Aufsichtsrat des Zielunternehmens stehen der Beteiligung wohlwollend gegenüber. Der*Die Aufkäufer*in plant vor diesem Hintergrund, den restlichen Aktionär*innen ein offizielles Kaufangebot von 100 € pro Aktie zu machen. Perspektivisch ist ein Delisting geplant. Die freien Aktionär*innen würden dann ausgekauft und abgefunden im Rahmen eines Squeeze-outs. Vorstand und Aufsichtsrat empfehlen den Anteilseigner*innen nach Prüfung der offiziellen Angebotsunterlagen, die Offerte anzunehmen. Der*Die Großaktionär*in des Unternehmens, der*die ursprünglich mehr als 50 % der Aktien besaß, verkauft vorab eine Sperrminorität (25,1 %) aus seinem*ihrem Anteilsbesitz.

Kurz vor dem Start des offiziellen Angebots tritt jedoch ein*e zweite*r Finanzinvestor*in auf den Plan. Er*Sie bietet zunächst 110 € pro Aktie und gibt zu erkennen, dass unter Umständen sogar 115 € pro Anteil möglich wären.

Die freien Aktionär*innen kritisieren danach, dass der Aufsichtsrat keine Verhandlungen mit dem*der Gegenanbieter*in aufnimmt. Dies entspräche aus ihrer Sicht ihren originären Vermögensinteressen, da das Gegenangebot deutlich über dem des*der Erstbieter*in liegt. Diese*r hält an seiner*ihrer Offerte auch unter der neuen Ausgangslage fest. In einer Stellungnahme begründet der Aufsichtsrat seine Haltung damit, dass der*die Großaktionär*in zum Ersten mit dem Verkauf seiner*ihrer Anteile bereits Fakten geschaffen habe. Der*die Erstbieter*in verfüge nun – zusätzlich zu seinen*ihren am freien Markt gekauften Anteilen – über die Mehrheit der Stimmrechte. Zum Zweiten habe der*die Gegenbieter*in erklärt, dass er*sie das Unternehmen mit einem seiner*ihrer Tochterunternehmen fusionieren wolle – das Zielunternehmen damit faktisch also aufgelöst würde.

EU und Deutschland mit strengen Regelwerken bei Übernahmen

„In der Europäischen Union und in Deutschland gibt es strenge Regelwerke und Gesetze, nach denen Anteils- beziehungsweise Unternehmensübernahmen reguliert und überwacht werden“, ordnet Dr. Rosi Liem, Partnerin bei Mazars in Deutschland, die komplexe Situation des Fallbeispiels ein. „Bei Übernahmen aus dem nichteuropäischen Ausland sind diese umso strenger. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sich der betroffene Aufsichtsrat an die entsprechenden Regelwerke und Gesetze hält. Anderenfalls müssten die Organmitglieder damit rechnen, dass Schadenersatzansprüche seitens der Aktionär*innen gegen sie geltend gemacht werden.“ Aus der Außenperspektive sollten Rückschlüsse auf die Zulässigkeit des Verhaltens von Unternehmensorganen zudem mit Vorsicht gezogen werden. Da viele Informationen nicht an die Öffentlichkeit dringen, lässt sich die Entscheidungsfindung der an den Vorgängen beteiligten Parteien in Bezug auf ihre Rechtssicherheit nach Liems Worten nicht zuverlässig bewerten.

Interessenkonflikte wie bei einer Erbengemeinschaft

„Vom Grundsatz her ist sind Interessenkonflikte in Situationen wie der im Fallbeispiel am ehesten zu vergleichen mit denen einer Erbengemeinschaft, die ein älteres Haus besitzt. Und nun tritt plötzlich ein*e Käufer*in auf den Plan“, sagt Liem. „Ein Teil der Erbengemeinschaft möchte die familiäre Tradition wahren. Ein anderer Teil möchte es modernisieren und mit einem Finanzpartner zu einem modernen Bürogebäude ausbauen. Und ein dritter Teil will zu einem hohen Preis verkaufen, weil Bargeld benötigt wird.“ In jedem Fall sind Vorstand und Aufsichtsrat nach Liems Einschätzung gut damit beraten, intern eine transparente Faktenlage herzustellen, damit sich Interessen nachvollziehen lassen.

Dabei ist zu beachten, dass Entscheidungskriterien beziehungsweise die Interessen der einzelnen Bezugsgruppen nicht nur finanzieller Natur sind. Auch ökologische, soziale oder übergeordnete wirtschaftliche Interessen spielen häufig eine Rolle. „Diese Transparenz herzustellen und danach zu einer moderierten Entscheidung zu führen, ist in der Praxis Aufgabe des*der Aufsichtsratsvorsitzenden“, sagt die Beratungsexpertin.

Mazars Partnerin Liem: „Die größte Herausforderung für den Aufsichtsrat ist somit erstens, mögliche Verkaufsoptionen frühzeitig zu erkennen. Zweitens, die für die Anteilseigner*innen wichtigsten Entscheidungskriterien zu verstehen. Und drittens, diese faktisch zu bewerten, damit Betroffene die individuell passende Entscheidung treffen können.“

 

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