Energiebezugsverträge – schwebende Geschäfte oder Finanzderivate im Bereich des IFRS 9 „Finanzinstrumente“?

27.09.2023 – Gemeinhin wird erwartet, dass Energiebezugsverträge schwebende Geschäfte und damit grundsätzlich nicht zu bilanzieren sind, soweit sich Leistung und Gegenleistung ausgleichend gegenüberstehen. Der Gedanke, dass Verträge zum Bezug von Energie für den Produktionsprozess Finanzinstrumente sein könnten, liegt daher zunächst auch nicht auf der Hand.

Ein Energiebezugsvertrag fällt jedoch dann in den Anwendungsbereich des IFRS 9 „Finanzinstrumente“, wenn er zu einem Nettoausgleich bzw. einer Geldzahlung oder einem Ausgleich in anderen Finanzinstrumenten führt oder führen kann und die Eigenverbrauchsausnahme für das Unternehmen („own use exception“) nicht greift (IAS 32.9; IFRS 9.2.6; IFRS 9.BCZ.218).

Ausgleichszahlungen in Geld – Grenzen der Eigenverbrauchsausnahme

Anfang Juni 2023 griff das IASB die in der Praxis seit Langem geführte Diskussion der „own use exception“ im Arbeitspapier „Application of the ‚own use‘ exception in the light of current market and geopolitical questions (IFRS 9)” auf.

Auch das IASB stellt fest, dass Energieverträge eine zunehmend größere Bandbreite an Gestaltungen aufweisen. Maßnahmen zur Energieeinsparung und Produktionsstillstände, der Bezug von erneuerbaren Energien und die damit gegebenenfalls verbundene Notwendigkeit, einen Teil der georderten Menge Energie aufgrund deren Nichtlagerbarkeit weiterzuverkaufen, können einen Nettoausgleich in Geld (z. B. Strafzahlungen) oder anderen Finanzinstrumenten zur Folge haben. Dazu führen anhaltende Unsicherheiten zu Verträgen mit Mehr- und Mindermengenflexibilisierungen, die ebenfalls Ausgleichszahlungen in Geld oder anderen Finanzinstrumenten umfassen können.

In der Praxis gibt es eine Vielzahl von Gründen für unerwartete Abweichungen zwischen geplantem Energiebedarf und tatsächlichem Verbrauch, die zu den verschiedensten Formen eines Ausgleichs in Geld oder einem anderen Finanzinstrument führen. IFRS 9 lässt hier durchaus eine gewisse Abweichung zu, um dennoch mit den Grundsätzen der Ausnahmeregelung für den Eigenverbrauch vereinbar zu sein, beinhaltet dazu jedoch keine ausreichenden Anwendungsleitlinien.

Die besonderen Herausforderungen bestehen darin, dass Energie nicht lagerbar ist, die Energie nahezu ständig geliefert werden könnte und Transaktionen auf dem Spotmarkt nach der Lieferung erfolgen. So kommt es in der weiterhin offenen Diskussion zu der Idee, ob nicht der Energiemarkt selbst als seine Art „storage mechanism“ gesehen werden könnte.

Überlegungen in der aktuellen Praxis

Die aktuellen Diskussionen zur Eigenverbrauchsausnahme sind unbedingt zu verfolgen. Würde ein Energiebezugsvertrag als Finanzinstrument klassifiziert, ob bei Abschluss des Vertrags oder später, kann dies Auswirkungen auf die Erstellung des IFRS-Abschlusses haben. Hohe Volatilitäten der Energiepreise und eine mögliche Klassifizierung des Vertrags in Level 3, der niedrigsten Stufe der Bewertungshierarchie des IFRS 13 mit umfangreichen Berichterstattungspflichten zur Ermittlung des Werts der Verträge, erhöhen die Komplexität der Bilanzierung und Berichterstattung.

Darüber hinaus ist auch auf die aktuell geführten Diskussionen hinsichtlich der Anforderungen an den Nachweis der Erfüllung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Eigenverbrauchsausnahme zu verweisen, insbesondere in Bezug auf die Planung, Datenbasis und Dokumentationen der Unternehmen hinsichtlich ihres Energiebedarfs und -verbrauchs.

Energiebezugsverträge sind nicht nur ein Thema im Abschluss nach IFRS, sondern auch nach HGB. Führen Zahlungen von Geld oder anderen Finanzinstrumenten zu einem Verpflichtungsüberhang, kann dies die Bildung von Rückstellungen bedingen. Ebenso sind Risiken, die sich aus der Energieversorgung des Unternehmens ergeben, Gegenstand des Risikomanagements wie auch Bestandteil der Risikoberichterstattung im Lagebericht.

In der Praxis hat sich gezeigt, dass für die Erfassung der Komplexität von neuen Energiebezugsverträgen ein frühzeitiger Austausch zwischen verschiedenen Bereichen eines Unternehmens wichtig ist. Der Bogen kann sich von einer Abteilung, die für die Erstellung und Umsetzung einer neuen Nachhaltigkeitsstrategie verantwortlich zeichnet, über die Rechtsabteilung und das Risikocontrolling bis hin zum Rechnungswesen spannen.