EuGH-Nachfolgeentscheidung: Finanzielle Eingliederung erfordert Willensdurchsetzung des Organträgers und Mehrheitsbeteiligung

Stimmrechtsmehrheit nicht zwingend – BFH, Urteil vom 18. Januar 2023 – XI R 29/22 (XI R 16/18)

Sachverhalt

Streitig war, ob eine umsatzsteuerliche Organschaft zwischen A (Körperschaft des öffentlichen Rechts) als Organträgerin und einer GmbH als Organgesellschaft bestand. Gesellschafter der GmbH waren A zu 51 % und C (eingetragener Verein) zu 49 %. Alleiniger Geschäftsführer der Klägerin war im Streitjahr E, der zugleich Alleingeschäftsführer der A und geschäftsführender Vorstand des C war.

Auf der Grundlage des Gesellschaftsvertrags der GmbH verneinte die Finanzverwaltung die finanzielle Eingliederung der GmbH in das Unternehmen der A. A sei zwar mit 51 % mehrheitlich am Gesellschaftskapital der Klägerin beteiligt gewesen, habe aber nicht über eine Stimmrechtsmehrheit verfügt und sei damit nicht in der Lage gewesen, Beschlüsse bei der GmbH durchzusetzen.

Vorlage des BFH zum EuGH

Der BFH hat dem EuGH (Beschluss v. 11. Dezember 2019 – XI R 16/18) folgende Rechtsfragen zur Auslegung zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1. Sind Art. 4 Abs. 4 UAbs. 2 iVm Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 Richtlinie 77/388/EWG dahingehend auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat gestatten, anstelle der Mehrwertsteuergruppe (des Organkreises) ein Mitglied der Mehrwertsteuergruppe (den Organträger) zum Steuerpflichtigen zu bestimmen?

2. Falls die Frage 1 verneint wird: Sind Art. 4 Abs. 4 UAbs. 2 iVm Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 Richtlinie 77/388/EWG insoweit berufbar?

3. Ist bei der nach Rz. 46 des EuGH-Urteils v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, Larentia + Minerva (…) vorzunehmenden Prüfung, ob das in § 2 Abs. 2 Nr. 2 S. 1 UStG enthaltene Erfordernis der finanziellen Eingliederung eine zulässige Maßnahme darstellt, die für die Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Vermeidung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich und geeignet ist, ein strenger oder ein großzügiger Maßstab anzulegen?

4. Sind Art. 4 Abs. 1, Abs. 4 UAbs. 1 Richtlinie 77/388/ EWG dahingehend auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat gestatten, im Wege der Typisierung eine Person als nicht selbständig iSd Art. 4 Abs. 1 Richtlinie 77/388/EWG anzusehen, wenn sie in der Weise finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen eines anderen Unternehmers (Organträgers) eingegliedert ist, dass der Organträger seinen Willen bei der Person durchsetzen und dadurch eine abweichende Willensbildung bei der Person verhindern kann?“

Entscheidung des EuGH

Der EuGH hat mit Urteil vom 1. Dezember 2022 (C-141/20) Folgendes geantwortet:

„1. Art. 4 Abs. 4 UAbs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates v. 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates v. 17.10.2000 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträger dieser Gruppe zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.

2. Art. 4 Abs. 4 UAbs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit einer Einheit, mit dem Unternehmen des Organträgers eine Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zu bilden, an die Bedingung knüpft, dass der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung an dieser Einheit über eine Stimmrechtsmehrheit bei ihr verfügt.

3. Art. 4 Abs. 4 UAbs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung ist iVm Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 Richtlinie 77/388 in geänderter Fassung dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege der Typisierung als nicht selbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, eingegliedert sind.“

Leitsätze der (Folge-)Entscheidung des BFH

1. Die sich aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG ergebende Steuerschuldnerschaft des Organträgers für die Umsätze der Organschaft ist unionsrechtskonform (Anschluss an EuGH Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie v. 1.12.2022 – C-141/20, DStR 2022, 2481, EU:C:2022:943).

2. Zwar erfordert die finanzielle Eingliederung iSd § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG im Grundsatz, dass dem Organträger die Mehrheit der Stimmrechte an der Organgesellschaft zusteht. Eine finanzielle Eingliederung liegt aber auch dann vor, wenn die erforderliche Willensdurchsetzung dadurch gesichert ist, dass der Gesellschafter zwar über nur 50 % der Stimmrechte verfügt, er aber eine Mehrheitsbeteiligung am Kapital der Organgesellschaft hält und er den einzigen Geschäftsführer der Organgesellschaft stellt (Änderung der Rechtsprechung).

Begründung des BFH

Nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG wird die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit nicht selbstständig ausgeübt, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Die Wirkungen der Organschaft sind auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmensteilen beschränkt. Diese Unternehmensteile sind als ein Unternehmen zu behandeln. Hat der Organträger seine Geschäftsleitung im Ausland, gilt der wirtschaftlich bedeutendste Unternehmensteil im Inland als der Unternehmer.

Das nationale Recht weicht zwar vom zugrunde liegenden Unionsrecht ab. Diese Abweichung ist aber unter bestimmten Bedingungen zulässig. Unionsrechtlich kann der nationale Gesetzgeber den Organträger zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, bestimmen, wenn der Organträger in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und wenn diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt. Diese beiden Voraussetzungen erfüllt das nationale Recht.

Zum einen muss der Organträger bei der Organgesellschaft seinen Willen durchsetzen können. Zum anderen kommt es durch die Bestimmung des Organträgers zum einzigen Steuerpflichtigen nicht zur Gefahr von Steuerverlusten, da alle Organgesellschaften für solche Steuern des Organträgers haften, für welche die Organschaft zwischen der jeweiligen Organgesellschaft und dem Organträger steuerlich von Bedeutung ist (§ 73 AO).

Der BFH ändert seine Rechtsprechung zur finanziellen Eingliederung. Diese liegt trotz fehlender Stimmrechtsmehrheit vor. Zwar erfordert die finanzielle Eingliederung im Grundsatz, dass dem Organträger die Mehrheit der Stimmrechte an der Organgesellschaft zusteht. Eine finanzielle Eingliederung liegt aber auch dann vor, wenn die erforderliche Willensdurchsetzung dadurch gesichert ist, dass der Gesellschafter zwar über nur 50 % der Stimmrechte verfügt, er aber eine Mehrheitsbeteiligung am Kapital der Organgesellschaft hält und er den einzigen Geschäftsführer der Organgesellschaft stellt, so dass die schwächer ausgeprägte finanzielle Eingliederung in dieser Weise durch eine besonders stark ausgeprägte organisatorische Eingliederung ausgeglichen wird.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH muss der Organträger für eine finanzielle Eingliederung über die Mehrheit der Stimmrechte verfügen, sofern keine höhere qualifizierte Mehrheit für Beschlüsse in der Organgesellschaft erforderlich ist. Eine Anteilsmehrheit ist neben einer Stimmrechtsmehrheit nicht erforderlich.

Durch die geänderte Rechtsprechung des BFH ist eine (isolierte) Organschaft zwischen Schwestergesellschaften auch weiterhin nicht zulässig.

Anmerkung

Der BFH geht weiterhin davon aus, dass es für die finanzielle Eingliederung einer Stimmrechtsmehrheit bedarf. Dennoch liegt die finanzielle Eingliederung bei einem Gesellschafter mit Anteilsmehrheit von 50 % der Stimmrechte vor, wenn durch eine stark ausgeprägte organisatorische Eingliederung Willensdurchsetzung gewährleistet ist.

Autor

Christian Hassa
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