EuGH-Urteile vom 1. Dezember 2022 zur umsatzsteuerlichen Organschaft: Bringt die EU-Rechtskonformität Klarheit oder nicht?

Der EuGH hat in zwei Verfahren zur umsatzsteuerlichen Organschaft die strittige EU-Rechtskonformität bestätigt und ist nicht der Argumentation der Generalanwältin gefolgt und schafft insoweit Rechtssicherheit. Gilt das für alle im Einzelnen zu klärenden Rechtsfragen der Urteile oder werfen diese neue Fragen auf?

Hintergrund

Mit den Vorlagen zweier Beschlüsse der mit der Umsatzsteuer befassten Senate des BFH an den EuGH war die deutsche Regelung zur umsatzsteuerlichen Organschaft in Frage gestellt worden. Gegebenenfalls hätte eine ablehnende Entscheidung zur Rückforderung sämtlicher für die Organkreise entrichteter Umsatzsteuer gegenüber der Finanzverwaltung geführt.

Mit den Schlussanträgen (vgl. Schlussanträge vom 13. Januar 2022, C-141/20 und vom 27. Januar 2022, C-269/20) der Generalanwältin Medina wurde die Vereinbarkeit der deutschen Regelungen zur umsatzsteuerlichen Organschaft angezweifelt und daneben die Fragen zur Steuerbarkeit von Innenumsätzen und der Besteuerung von unentgeltlichen Wertabgaben aufgeworfen.

Organträger kann als alleiniger Steuerschuldner des Organkreises gelten/ Anforderungen an finanzielle Eingliederung

Mit den nunmehr ergangenen Urteilen vom 1. Dezember 2022 (C-269/20-Finanzamt T und C-141/20 – Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie) und der Bestätigung der EU-Rechtskonformität der deutschen Regelungen zur umsatzsteuerlichen Organschaft ist der EuGH den Schlussanträgen der Generalanwältin nicht gefolgt.

Nach Ansicht des EuGH ist die deutsche Regelung, die den Organträger zum einzigen umsatzsteuerlichen Steuerpflichtigen einer Gruppe bestimmt, gemeinschaftsrechtlich zulässig. Eine Gefahr von Steuerverlusten sieht der EuGH aufgrund der bestehenden Regelung des § 73 AO nicht, da diese die Organgesellschaft als Haftungsschuldner für durch sie verursachte Steuern des Organkreises definiert.

Weiterhin hat der EuGH thematisiert, wann von einer „engen finanziellen Verbindung“ auszugehen ist. In seinen Leitsätzen hat er zwar dazu ausgeführt, dass die MwStSystRL der nationalen Organschaftsregelung entgegensteht, sofern diese neben einer Mehrheitsbeteiligung auch eine Stimmrechtsmehrheit erfordert. In der Urteilsbegründung wird jedoch erläutert (Rz. 69), dass das vorlegende Gericht zu prüfen hat, ob das Erfordernis der Stimmrechtsmehrheit eine geeignete Maßnahme für die Verhinderung missbräuchlicher Praktiken und die Bekämpfung von Steuerhinterziehung bzw. -umgehung sei. Insofern schränkt der EuGH die im Leitsatz getroffene Aussage wiederum ein. Es bleibt demnach abzuwarten, ob eine Stimmrechtsmehrheit nach der nationalen Regelung weiterhin zu beachten ist.

Zu diesem Aspekt ist ebenfalls zu erwähnen, dass keine Aussage dazu getroffen wurde, ob im Rahmen einer 50%-Beteiligung oder einer Minderheitsbeteiligung samt Stimmrechtsmehrheit eine enge finanzielle Eingliederung vorliegen kann. Auch für diese Konstellationen bleibt die Entwicklung abzuwarten.

Steuerbarkeit von Innenumsätzen bleibt offen

Neben den klarstellenden Aussagen hinsichtlich der Rechtskonformität der deutschen Regelungen zur umsatzsteuerlichen Organschaft sind die Aussagen zur Umsatzsteuerbarkeit von Innenumsätzen nicht eindeutig bzw. lassen einen Interpretationsspielraum zu. Diese Rechtsfrage war noch nicht Gegenstand der Vorlagenbeschlüsse des BFH, sondern wurde erst mit den Schlussanträgen der Generalanwältin aufgenommen. Ausgehend von der Unselbstständigkeit der Organgesellschaft und damit dem Verlust der Eigenschaft als selbstständiger Unternehmer im deutschen Umsatzsteuerrecht gilt die Organgesellschaft in das Unternehmen des Organträgers als eingegliedert. Mit dieser Fiktion gelten sämtliche Leistungserbringungen innerhalb des Unternehmens aufgrund des Fehlens eines zweiten Unternehmers als interne Leistungsverrechnungen.

Dem hat der EuGH nun widersprochen. Es sei einem Mitgliedsstaat nicht gestattet, Einheiten fiktiv in ein anderes Unternehmen einzugliedern und damit deren Unselbstständigkeit zu begründen. Inwiefern diese Feststellung dazu führt, dass die Leistungen innerhalb des Organkreises nach dem deutschem Umsatzsteuerrecht weiterhin nicht umsatzsteuerbar bleiben, lässt der EuGH offen.

Keine unentgeltliche Wertabgabe für Leistungen in den nichtwirtschaftlichen Bereich

Entsprechend dem Gesetzeswortlaut des § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 und 3 UStG erstreckt sich die Organschaft auf sämtliche im Inland gelegene Unternehmensteile. Dies wirft die Frage auf, ob die Organschaft sich nur auf die unternehmerischen Tätigkeiten der Organkreismitglieder beschränkt oder ob die Organschaft zu einer Zusammenfassung aller Tätigkeitsbereiche der Mitglieder führt und ob gegebenenfalls bei Leistungserbringungen an den nichtunternehmerischen Bereich eine unentgeltliche Wertabgabe gemäß § 3 Abs. 9a UStG zu versteuern ist. Relevant ist dies nicht nur für juristische Personen des öffentlichen Rechts, sondern auch für Unternehmen, die aufgrund steuerfreier bzw. nicht zum Vorsteuerabzug berechtigender Ausgangsleistungen oder Tätigkeiten im nichtunternehmerischen Bereich, keine Vorsteuer ziehen können (zum Beispiel gemeinnützige Einrichtungen).

In der Rechtssache C-269/20 hatte der EuGH genau dies zu entscheiden. Im Ergebnis umfasst das Unternehmen laut EuGH auch den Bereich der nichtunternehmerischen Tätigkeiten. Vielmehr ist zwischen nichtunternehmerischer und unternehmensfremder Nutzung zu unterscheiden. Nur bei Leistungserbringung in den unternehmensfremden Bereich (private Nutzung oder Leistungen an das Personal) ist laut EuGH eine unentgeltliche Wertabgabenbesteuerung vorzunehmen.

Steht bereits bei Leistungsbezug eines Mitglieds fest, dass dieses die Leistungen an einen nichtunternehmerischen Bereich eines anderen Mitglieds erbringen wird, besteht folglich kein Vorsteuererstattungsanspruch (§ 15 Abs. 2 Nr. 1 UStG).

Im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit des nichtunternehmerischen Bereichs zum Unternehmen stellt sich nunmehr die Frage, ob das im deutschen Recht festgelegte Aufteilungsgebot im Rahmen der Zuordnungsentscheidung von Leistungsbezügen oder in der Anschaffung von Vermögensgegenständen so noch Bestand haben kann. Vielmehr scheint eine vollständige Zuordnung mit möglichem anteiligen Vorsteuerabzug nun möglich. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Finanzverwaltung dazu positioniert und inwiefern der Umsatzsteueranwendungserlass entsprechend angepasst wird.

Bedeutung für die Praxis

Für alle bestehenden umsatzsteuerlichen Organschaften hat der EuGH insoweit Klarheit geschaffen, indem er die Rechtskonformität der deutschen Regelungen mit dem europäischen Recht bestätigt hat. Insoweit besteht kein unmittelbarer Handlungsbedarf, auch nicht im Hinblick auf bisher eingelegte Einsprüche. Es fehlt allerdings an einer eindeutigen Rechtsauffassung hinsichtlich der Nichtsteuerbarkeit von Innenleistungen im Organkreis. Auch hinsichtlich der Anforderungen an die finanzielle Eingliederung sind nicht sämtliche Fragen beantwortet. Insofern bleibt die anschließende Rechtsentwicklung, insbesondere durch den BFH, abzuwarten.

Rechtssicherheit geben die Urteile im Zusammenhang mit der Besteuerung von unentgeltlichen Wertabgaben. Hinsichtlich zukünftiger Zuordnungsentscheidungen von Leistungsbezügen gilt es, die Positionierung der Finanzverwaltung zu beobachten, um mögliche Gestaltungsspielräume nutzen zu können.

Autor*innen

Sandra Harnisch
Tel: +49 341 60 03 2285

Christian Hassa
Tel: +49 341 60 03 2187

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Dies ist ein Beitrag aus unserem Public Sector Newsletter 1-2023. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.