Aktuelle Rechtsprechung zum Vertragsarztrecht

Kein Verlust des Arztsitzes eines MVZ bei nicht vorhersehbarem Job-Wechsel des ausscheidenden Arztes

Das SG Berlin hat mit Urteil vom 30. September 2020 – Az. S 87 KA 155/18 entschieden, dass das Recht eines MVZ zur Nachbesetzung eines hälftigen Angestelltensitzes dann nicht erlischt, wenn der verzichtende Arzt vor dem Ablauf der Frist von drei Jahren einen nicht vorhergesehenen Job-Wechsel vollzieht und seine Anstellung am MVZ kündigt.

Sachverhalt

Eine Ärztin war in Teilzeit bei dem MVZ angestellt, zu dessen Gunsten sie auf ihren halben Vertragsarztsitz verzichtet hatte. Neun Monate nach der Anstellung kündigte sie ihr Beschäftigungsverhältnis, um das Angebot einer Vollzeitstelle in einem konkurrierenden MVZ anzunehmen. Die vorherige Arbeitgeberin und die spätere Klägerin stellte beim Zulassungsausschuss einen Antrag auf Genehmigung der Anstellung einer anderen Ärztin und Erweiterung des Beschäftigungsumfangs auf dem freien Angestelltensitz. Die Anträge wurden abgelehnt, da die Tätigkeitsfortführung nach der 3-Jahres-Rechtsprechung des BSG (Az. B 6 KA 21/15 R) nicht eingehalten sei.

Entscheidung

Die Klage war erfolgreich. Es kommt allein auf die Absicht des Arztes im Zeitpunkt der Abgabe des Sitzes an, die Tätigkeit mindestens drei Jahre fortzuführen und nicht auf die tatsächliche Tätigkeit über diesen Zeitraum. Der Job-Wechsel sei für die Ärztin zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt gewesen.

Praxishinweis

Diese Klarstellung des SG Berlin bringt Rechtssicherheit. Auch bei anderen unvorhersehbaren Ereignissen dürfte kein Verlust des angestellten Sitzes des MVZ drohen, wenn sich das Leben des abgebenden Arztes z. B. durch Berufsunfähigkeit unerwartet verändert. Im Hinblick auf die viel häufigeren Fälle, in denen der Verzicht zur Anstellung der Vorbereitung des Verkaufs der Praxis erfolgt, ändert sich durch diese Entscheidung voraussichtlich nichts.

Entziehung einer belegärztlichen Sonderbedarfszulassung bei fehlender Absicht belegärztlicher Tätigkeit

Das SG Niedersachsen-Bremen hat mit Urteil vom 28. Oktober 2020 – L 3 KA 25/20 entschieden, dass die Entziehung einer belegärztlichen Sonderbedarfszulassung wegen zu geringer belegärztlicher Tätigkeit und der daraus geschlossenen fehlenden Absicht, tatsächlich belegärztlich tätig zu sein, rechtmäßig ist.

Sachverhalt

Der Belegarzt und Kläger, ein Facharzt für Kardiologie, hatte 2011 eine belegärztliche Sonderbedarfszulassung (§ 103 Abs. 7 SGB V) erhalten. Dazu sollte er 15 Betten mit anderen Kardiologen kooperativ nutzen. Der Anteil der belegärztlichen Tätigkeit lag gegenüber der vertragsärztlichen Tätigkeit bei maximal 1,5 %. Die anderen Kardiologen behandelten im Vergleichszeitraum ein Vielfaches an Belegpatienten. 2016 wurde der Arzt aufgefordert seine belegärztliche Tätigkeit zu erhöhen. Dem kam er in der Folge nicht ausreichend nach. Der Zulassungsausschuss leitete daher im März 2018 ein Entziehungsverfahren ein (§ 95 Abs. 6 SGB V).

Entscheidung

Ob eine belegärztliche Tätigkeit ausgeübt wird, richte sich nicht allein nach der Anzahl der tatsächlich betreuten Betten. Der relativ geringe Umfang der belegärztlichen Tätigkeit zeige, dass kein ernsthaftes Interesse an der belegärztlichen Tätigkeit vorlag. Darin sah das LSG eine faktische Umgehung der Bedarfsplanung und stufte diese als Missbrauch ein. Eine Entziehung der Sonderbedarfszulassung sei in einem solchen Fall gesetzlich zwingend. Ein vorübergehendes Ruhen der Zulassung kam nach Ansicht des LSG nicht in Frage, da das spätere Erwachsen einer unbeschränkten Zulassung (§ 103 Abs. 7 S. 3 SGB V) mit dem langjährigen Missbrauch der Zulassung unvereinbar sei.

Praxishinweis

Auch wenn keine Untergrenze einer ausreichenden belegärztlichen Tätigkeit für die Erteilung der belegärztlichen Sonderbedarfszulassung festgesetzt wurde, wird deutlich, dass die belegärztliche Tätigkeit im Vergleich zu anderen Belegärzten derselben Fachrichtung und zur früheren Ausübung hinsichtlich der bereitstehenden Betten und des Anteils gegenüber der vertragsärztlichen Berufsausübung nicht erheblich geringer ausfallen darf. Ob diese Rechtsprechung auch Konsequenzen für Belegärzte haben wird, die nicht aufgrund einer belegärztlichen Sonderbedarfszulassung tätig sind, sondern regulär aufgrund einer Belegarztanerkennung, ist abzuwarten.

Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung gilt in beide Richtungen

Ein wesentliches Prinzip ärztlicher Tätigkeit ist das der peinlich genauen Abrechnung. Es darf weder zu viel (SG München, Entscheidung vom 21. Januar 2021 – S 38 KA 165/19) noch zu wenig (LSG NRW, Urteil vom 9. September 2020 – L 11 KA 32/19) abgerechnet werden.

Nicht zu viel …

Gegenstand der Entscheidung des SG München ist die Klage des ärztlichen Leiters eines MVZ gegen die von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gegen ihn festgesetzten Geldbuße.

Sachverhalt

Der Kläger war ärztlicher Leiter eines MVZ: in diesem und in einem nahegelegenen, aber wirtschaftlich unabhängigen MVZ mit nahezu identischer Fachausrichtung. Es kam zu Doppelbehandlungen von Patienten, gleichzeitigem Einlesen von Versicherungskarten und zu Abrechnungen nicht dokumentierter Leistungen. Die KV forderte das entsprechende Honorar zurück und verhängte eine Geldbuße gegen den Kläger, gegen die sich dieser mit der Klage richtet.

Entscheidung

Die Klage hatte keinen Erfolg. Der ärztliche Leiter hat gegen die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung verstoßen. Die Zusammenarbeit der MVZ habe eher einer nicht genehmigten (überörtlichen) Berufsausübungsgemeinschaft entsprochen. Die peinlich genaue Abrechnung zwinge den Erbringer einer medizinischen Leistung dazu, diese in der Art zu dokumentieren, dass ein fachkundiger Außenstehender beurteilen kann, ob alle Leistungsbestandteile erbracht wurden. Dem steht das teilweise Fehlen jeder Dokumentation entgegen. Es kommt nicht darauf an, dass der Kläger die Leistungen nicht selbst erbracht hat. Als Leiter des MVZ ist er Gesamtverantwortlicher und steht insofern einem freiberuflichen Leistungserbringer gegenüber gleich.

Praxishinweis

Einmal mehr zeigt es sich, wie wichtig es ist, Klarheit über die Art und Weise kooperativer Leistungserbringung zu haben. Dass die korrekte Dokumentation und Abrechnung zu den vertragsärztlichen Pflichten zählen, ist hinlänglich bekannt. Für die Einhaltung dieser Pflichten auch durch angestellte Ärzte haftet in einem MVZ der ärztliche Leiter.

… und nicht zu wenig!

Zu der korrekten Abrechnung gehört auch, dass die erbrachten Leistungen überhaupt abgerechnet werden. Anders war dies in einem vom LSG NRW zu entscheidenden Fall:

Sachverhalt

Der Kläger war Facharzt für Innere Medizin und führte als zugelassener Vertragsarzt eine Einzelpraxis. Der Kläger legte über einen Zeitraum von vier Jahren keine Abrechnung vor. Obwohl er im Umfang von mehr als 20 Stunden vertragsärztlich tätig war, rechnete er ausschließlich privatärztliche Leistungen ab. Die KV hat in der Folge die Zulassung entzogen.

Entscheidung

Das LSG NRW sah in dem Verhalten des Arztes einen groben Verstoß seiner vertragsärztlichen Pflichten und bestätigte die Entziehung der Zulassung. Ein grober, d. h. schwerer, Verstoß liegt vor, wenn das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der Abrechnungen gestört ist. Die peinlich genaue Abrechnung umfasst dabei nicht nur die Richtigkeit der Abrechnungen, sondern auch, dass überhaupt eine Abrechnung vorgelegt wird. Auf ein Verschulden des Arztes und somit auf seine persönlichen Lebensumstände kommt es nicht an. Die Entziehung sei auch verhältnismäßig, da sie das einzig geeignete Mittel zur Sicherung der Rechtmäßigkeit der Abrechnungen ist. Dies käme auch nicht einem Berufsverbot gleich, da es dem Arzt freistehe, sich in einem unterversorgten Gebiet um eine Zulassung oder eine Anstellung zu bemühen.

Praxishinweis

Auch das Unterlassen der gebotenen Abrechnung ist ein gröblicher Verstoß gegen vertragsärztliche Pflichten. Das Abrechnungssystem der KV und der Krankenkassen basiert auch auf einer statistischen Überprüfbarkeit, die durch eine unterbliebene Abrechnung gestört wird. Wenn der Arzt an einer Abrechnung aus persönlichen oder technischen Gründen gehindert ist, ist er verpflichtet, sich hilfesuchend an die KZ zu wenden. Keiner Erwähnung bedarf, dass der zugelassene Vertragsarzt überhaupt vertragsärztliche Leistungen im Umfang seines Versorgungsauftrags bzw. der gebotenen Anzahl von Sprechstunden erbringen muss. Wenn er dies pflichtgemäß tut, ist auch die Abrechnung der entsprechenden Leistungen zu erwarten. Werden dagegen keine oder erheblich weniger Leistungen abgerechnet, liegt die Annahme nahe, dass dem Versorgungsauftrag nicht umfassend nachgekommen wird.

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Autor

Dr. Moritz Ulrich
Tel: +49 30 208 88 1445

  

Dies ist ein Beitrag aus unserem Health-Care-Newsletter 3-2021. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.