Bundesgerichtshof beschränkt Werbung für Fernbehandlung

Trotz der gesetzlichen Liberalisierung des Werbeverbotes für Fernbehandlungen hat der Bundesgerichtshof in der sog. Ottonova-Entscheidung vom 9. Dezember 2021 – I ZR 146/20 – die Grenzen zulässiger Fernbehandlung weiterhin eng gezogen.

Das ärztliche Berufsrecht erfährt in den letzten Jahren erfreulicherweise eine Liberalisierung. Insbesondere mit den Beschlüssen des 121. Deutschen Ärztetages von 20181 wurde die Musterberufsordnung geändert, die zwischenzeitlich in nahezu allen Kammerbezirken umgesetzt wurde2. Danach ist eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.3

Im Zuge dieser Entwicklung wurde auch das Werberecht angepasst. So wurde das bis dahin geltende absolute Werbeverbot für Fernbehandlungen durch das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) ab dem 19. Dezember 2019 geändert, und nunmehr ist Werbung für Fernbehandlungen zulässig, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist.4 Eine vollständige Aufhebung der Regelung des § 9 HWG war nicht gewollt, da die Fernbehandlung weiterhin durch Personen angeboten werden kann, bei denen weder die Fernbehandlung noch das Bewerben der Fernbehandlung durch eine rechtlich verbindliche Berufsordnung geregelt ist, sodass nach der Bewertung des Gesetzgebers der Schutzbedarf der Norm weiterhin fortbesteht.5 Demnach dürfen nur solche Fernbehandlungen bei Menschen beworben werden, bei denen die Einhaltung anerkannter fachlicher Standards gesichert ist, was insbesondere dann der Fall ist, wenn nach dem anerkannten medizinischen Stand der Erkenntnisse eine ordnungsgemäße Behandlung und Beratung unter Einsatz von Kommunikationsmedien grundsätzlich möglich ist.6

Mit Spannung erwartet wurde nun eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) als erste höchstrichterliche Entscheidung zur neuen Rechtslage. Die Beklagte hatte auf ihrer Website für „digitale Arztbesuche“ mittels einer App bei in der Schweiz ansässigen Ärzten mit der Aussage „Erhalte erstmals in Deutschland Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App“ geworben. Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs sah darin einen Verstoß gegen das Verbot der Werbung für Fernbehandlungen und erhielt schließlich recht.

Der Bundesgerichtshof hat sowohl einen Verstoß gegen bisheriges Recht (erwartungsgemäß, da absolutes Werbeverbot) als auch gegen die dargestellte neue liberalisierte Gesetzeslage erkannt. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass keine allgemein anerkannten fachlichen Standards vorliegen, die im konkreten Fall eine ausschließliche Fernbehandlung rechtfertigen. Dabei ist insbesondere auf Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften und die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses abzustellen. Nach der Bewertung des Bundesgerichtshofes könne auch nicht auf die erwähnte Musterberufsordnung abgestellt werden, da diese auf konkrete Einzelfälle bezogen ist und keinen abstrakt- generalisierenden Maßstab für die Beurteilung von an eine Vielzahl von nicht näher individualisierten Personen gerichteter Werbung biete und diese zum anderen in den maßgeblichen Berufsordnungen der Bundesländer nicht einheitlich umgesetzt worden ist.

Die Rechtsprechung möchte also abwarten, bis sich die erwähnten „Fernbehandlungsrichtlinien“ etabliert haben. Das Gericht lässt auch den Einwand nicht gelten, der Verkehr werde die Werbung dahingehend verstehen, dass sich die angebotene Fernbehandlung nur auf allgemeine medizinische Probleme bzw. auf bestimmte Fälle beziehe, in denen eine Fernkonsultation auch medizinisch möglich und vertretbar sei. Dies wird mit den Argumenten abgelehnt, dass bei gesundheitsbezogener Werbung besonders strenge Anforderungen an die Richtigkeit, Eindeutigkeit und Klarheit der Werbeaussage zu stellen sind, da mit irreführenden gesundheitsbezogenen Angaben erhebliche Gefahren für das hohe Schutzgut des Einzelnen sowie der Bevölkerung verbunden sein können.

Fazit

Der Bundesgerichtshof hält an einem tradierten Patientenbild fest, das lange nicht mehr der Realität entspricht. Zudem wird das Korrektiv der Ärzte verkannt, die berufsrechtlich gehalten sind, eine sichere und medizinisch korrekte Versorgung sicherzustellen, die eine gewünschte Fernbehandlung immer der Prüfung unterzieht, ob diese ärztlich vertretbar ist. Mithin ist eine Irreführung oder gar Patientengefährdung bei einer Werbung für Fernbehandlungen, die sich erkennbar auf Alltagsleiden bezieht, ausgeschlossen und nach Sinn und Zweck des Heilmittelwerberechts wäre eine andere Entscheidung geboten gewesen.

Ferner ist mit der restriktiven Entscheidung des BGH auch der gesetzgeberische Wille außer Acht gelassen worden. Mit der Ergänzung des § 9 HWG um den S. 2 vollzog der Gesetzgeber die durch den Beschluss des 121. Deutschen Ärztetages erfolgte Anpassung des ärztlichen Berufsrechtes im Hinblick auf die Reichweite des Werbeverbotes, da die bisherige Regelung die flächendecke Einführung telemedizinischer Anwendungen erschwerte. 7 Bezogen auf die Ärzteschaft ist nach dem Gesetzgeberwillen deren berufsrechtliche Regelung maßgeblich.

Der ganz offensichtliche Widerspruch zur Versorgungsrealität, in der insbesondere die Covid-19-Pandemie zu einem erheblichen Anstieg der Fernbehandlungen geführt hat, zeigt, dass es zum einen dringend einer erneuten Gesetzesreform bedarf und zum anderen schnellstmöglich telemedizinische Standards und Leitlinien ermittelt werden müssen, die den Praxisalltag absichern können, auch wenn sie im Einzelfall nicht immer den Facharztstandard darstellen müssen. In diesem Zusammenhang sind auch die Forderungen des Spitzenverbandes Digitale Gesundheitsversorgung e. V. (SVDGV) für die Etablierung eines Telemedizinischen Versorgungszentrums (TMVZ) zu unterstützen.8

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1 121. Deutsche Ärztetag, Beschlussprotokoll S. 287 ff.

2 Regelung wurde bisher lediglich in den Landesärztekammern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern nicht umgesetzt.

3 § 7, Abs. 4, S. 3 MBO-Ä.

4 § 9, S. 2 HWG.

5 BT-Drs. 19/13438, S. 77. 

6 BT-Drs. 19/13438, S. 78.

7 BT-Drs. 19 /13438, S. 78.

8 Positionspapier des SVDGV aufrufbar unter: https://digitalversorgt.de/wp-content/uploads/2022/02/Positionspapier-Potenziale-der-Telemedizin.pdf (zuletzt abgerufen am: 19.02.2022)

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