Arbeitszeiterfassung – neue Erkenntnisse aus den Urteilsgründen?

15.11.2022. Lange ersehnt waren die Urteilsgründe des wohl aufsehenerregendsten Urteils des Bundesarbeitsgerichts der jüngeren Zeit. Nun sind sie da – eine wirkliche „Erleuchtung“ bleibt jedoch aus. Fest steht aber: Die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung besteht ab sofort.

Hintergrund

Die Frage, ob ein Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung eines Zeiterfassungssystems innehat, brachte das Bundesarbeitsgericht (BAG) im September 2022 dieses Jahres dazu, „über die Hintertür“ die Aussage zu treffen, dass jeden deutschen Arbeitgeber bereits heute die Pflicht zur Zeiterfassung aller Arbeitnehmer treffe. Dies folge aus unionsrechtskonformer Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG).

Bislang galt die Zeiterfassung in Deutschland nur für bestimmte Bereiche, so u. a. für sogenannte Minijobber oder für Beschäftigte in bestimmten Branchen bzw. für Überstunden und Sonntagsarbeit. Der Gesetzgeber hatte zwar bereits mit der Novellierung des Arbeitszeitgesetzes begonnen, ist nun jedoch durch das Bundesarbeitsgericht überholt worden.

Begründung des BAG

Eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) ergebe, dass jeder Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet ist, die Arbeitszeiten aller Arbeitnehmer zu erfassen. Es obliege den Arbeitgebern, den Gesundheitsschutz „in geeigneter Weise zu organisieren und mit den erforderlichen Mitteln auszustatten“. Dazu gehört nach Ansicht der Richter*innen auch die Erfassung und Aufzeichnung der Arbeitszeit. Zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer sei ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.

Wer ist betroffen?

Nach Ansicht der Rechtsprechung sind die Arbeitszeiten aller im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer aufzuzeichnen. Wer in diese Gruppe einzubeziehen ist und ob insbesondere auch Führungskräfte dazu zählen, lässt das Bundesarbeitsgericht offen. Der Anwendungsbereich des Arbeitsschutzgesetzes ist jedoch denkbar weit. Das Bundesarbeitsgericht gibt dem Gesetzgeber den Hinweis, dass einzelne Gruppen gesetzlich ausgenommen werden können. Handlungsbedarf ist somit wünschenswert.

Wie hat die Zeiterfassung zu erfolgen?

Die Hoffnung, dass ein reines Vorhalten eines Zeiterfassungssystems ausreicht, hat das Bundesarbeitsgericht nicht erfüllt. Vielmehr betont es, dass das Zeiterfassungssystem auch tatsächlich genutzt werden muss. Allein durch die Nutzung sei dem Zweck gedient und eine Überprüfbarkeit möglich.

In welcher Form die Zeiterfassung zu erfolgen hat, ist bislang nicht festgelegt. Alle Formen, von elektronischen Erfassungs-systemen bis hin zur handschriftlichen Dokumentation, sind somit derzeit zulässig.

Nicht geklärt hat das Bundesarbeitsgericht außerdem die Frage, wer die Arbeitszeit zu erfassen hat. Es ist somit davon auszugehen, dass eine Delegation der Erfassungspflicht auf den Arbeitnehmer möglich ist. Um den Beweis der Zeiterfassung leisten zu können, hat der Arbeitgeber sicherzustellen, dass die Arbeitnehmer dieser nachkommen.

Vertrauensarbeitszeit?

Der Umgang mit Vertrauensarbeitszeit wird sich somit zwar nicht zwingend in der Durchführung, jedoch in der Dokumentation ändern. Einer „im Vertrauen“ eingeteilten Arbeitszeit ohne feste Zeiten wird auch zukünftig nichts entgegenstehen. Die Dokumentation, wann diese frei eingeteilte Arbeitszeit jedoch erfolgt ist, hat aber wohl zu erfolgen. Somit bleibt die spannende Frage, durch welche Handlungen Ruhezeiten zukünftig unterbrochen werden. Wird jedes Beantworten einer E-Mail vom Sofa aus als Ruhezeitunterbrechung gesehen?

Welcher Handlungsbedarf besteht?

Unternehmen sollten sich der Verpflichtung stellen und ihre Zeiterfassungspraxis überprüfen bzw. derartige Anordnungen treffen. Wird die Verpflichtung delegiert, soll durch Kontrolle die Dokumentation sichergestellt werden. Die Pflicht sollte im Unternehmen klar kommuniziert und gelebt werden.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten:

  • Aus dem Beschluss ergibt sich die Pflicht der Arbeitgeber zur Zeiterfassung.
  • Die Ausgestaltung (händisch/elektro­nisch) bleibt bislang dem Arbeitgeber überlassen.
  • Eine Delegation der Aufzeichnungsverpflichtung auf den Arbeitnehmer scheint möglich zu sein. Den Arbeitgeber treffen insoweit Beweis- und Dokumentationspflichten.
  • Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz sind keine Ordnungswidrigkeit, d. h., es drohen somit (bisher) keine Bußgelder, wenn der Arbeitgeber nicht sofort ein Arbeitszeiterfassungssystem einführt.
  • Es wird erwartet, dass zeitnah ein Gesetzesentwurf zur Neuregelung des Arbeitszeitgesetzes hervorgebracht wird, der die Ausgestaltung der Zeiterfassung konkretisiert.

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