Vergabe von Rettungsdienstleistungen

06.05.2019 – EuGH-Urteil vom 21.03.2019 (C 465/17) schafft Klarheit

Sobald ein öffentlicher Auftraggeber einen Auftrag zu vergeben hat, ist bei Überschreiten der Schwellenwerte das europäische Vergaberecht anzuwenden. Allerdings bestehen zahlreiche Ausnahmen, in welchen Fällen das Vergaberecht nicht anzuwenden ist oder besondere (vereinfachte) Verfahren angewendet werden können.

So regelt § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB, dass das Vergaberecht nicht auf die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen zu Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden und die unter die Referenznummern des Common Procurement Vocabulary 75250000-3, 75251000-0, 75251100-1, 75251110-4, 75251120-7, 75252000-7, 75222000-8, 98113100-9 und 85143000-3 mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung fallen; gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen im Sinne dieser Nummer sind insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind, anzuwenden ist.

Diese Regelung entspricht Art. 10 lit. h) der Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe (2014/24/EU) bis auf den letzten Halbsatz. Dieser ist vom deutschen Gesetzgeber selbst geschaffen worden.

Dementsprechend hat die Stadt Solingen im März 2016 entschieden, den Auftrag über kommunale Rettungsdienstleistungen für die Dauer von fünf Jahren neu zu vergeben.

Das Beschaffungsvorhaben betraf zum einen den Einsatz in der Notfallrettung auf kommunalen Rettungswagen mit der Hauptaufgabe der Betreuung und Versorgung von Notfallpatienten durch Rettungsassistenten, unterstützt durch einen Rettungssanitäter („Notfallrettung“, Los 1), sowie zum anderen den Einsatz im Krankentransport mit der Hauptaufgabe der Betreuung und Versorgung von Patienten durch einen Rettungssanitäter, unterstützt durch einen Rettungshelfer („qualifizierter Krankentransport“, Los 2).

Die Stadt Solingen nahm keine Auftragsbekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vor. Vielmehr forderte sie den Arbeiter-Samariter-Bund, das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter-Unfallhilfe und den Malteser Hilfsdienst zur Angebotsabgabe auf. Letztlich erhielten zwei dieser Organisationen den Zuschlag für je eines der Lose.

Dies veranlasste die Falck Rettungsdienste GmbH und die Falck A/S-Gruppe dazu, diese Beauftragung als sog. De-Facto-Vergabe zu rügen und einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer Rheinland zu stellen. Ziel sollte die Feststellung sein, dass Falck durch die Vergabe in ihren Rechten verletzt und die Stadt Solingen selbst bei fortbestehender Beschaffungsabsicht verpflichtet sei, die Dienstleistungen in einem unionsrechtskonformen Vergabeverfahren zu vergeben.

Im Rahmen dieses Nachprüfungsantrags trug Falck u. a. vor, dass der Begriff der Gefahrenabwehr im Sinne des Ausnahmetatbestandes nur die Abwehr von Gefahren für große Menschenmengen in Extremsituationen betreffe. Außerdem seien die Auftragnehmer, die den Zuschlag erhalten haben, nicht als gemeinnützige Organisation oder Vereinigung im Sinne von Art. 10 lit. h) der Richtlinie 2014/14/EU anzusehen.

Mit Beschluss vom 19.8.2016 verwarf die Vergabekammer den Nachprüfungsantrag aber als unzulässig, weil die in Rede stehenden Rettungsdienstleistungen aufgrund der in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB geregelten Bereichsausnahme vom Vergaberecht ausgenommen seien.

Auf die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde von Falck hat das Oberlandesgericht Düsseldorf beschlossen, das Nachprüfungsverfahren auszusetzen und eine Vorabentscheidung des EuGH zu den Voraussetzungen des in Art. 10 lit. h) der Richtlinie 2014/24/EU geregelten Ausnahmetatbestands einzuholen.

Konkret bat das OLG den EuGH um Entscheidung, ob es sich bei den beauftragten Leistungen „Notfallrettung“ und „qualifizierter Krankentransport“ um Dienstleistungen der Gefahrenabwehr handelt, die von der Anwendung des EU-Vergaberechts ausgenommen sind, und unter welchen Voraussetzungen von einer „gemeinnützigen Organisation oder Vereinigung“ im Sinne der Richtlinie gesprochen werden kann.

Gefahrenabwehr betrifft auch Gefahren für Einzelpersonen

Der EuGH weist in seinem Urteil vom 21.3.2019 (C 465/17) darauf hin, dass der Begriff der Gefahrenabwehr in der Richtlinie nicht definiert und seine Dimension deshalb im Wege der Auslegung zu bestimmen ist: Eine Forderung, wie sie Falck aufstellt, dass die Gefahrenabwehr eine kollektive Dimension enthalten muss, würde dem Begriff nach Einschätzung des Gerichts jeglichen eigenen Inhalt nehmen, da er sich dann systematisch mit dem Zivilschutz oder dem Katastrophenschutz decken würde. Die Auslegung des EuGH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Gefahrenabwehr sowohl Gefahren für die Allgemeinheit als auch Gefahren für Einzelpersonen betrifft.

Besonders wird abgestellt auf den 28. Erwägungsgrund der Richtlinie, der da lautet:

„Diese Richtlinie sollte nicht für bestimmte von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbrachte Notfalldienste gelten, da der spezielle Charakter dieser Organisationen nur schwer gewahrt werden könnte, wenn die Dienstleistungserbringer nach den in dieser Richtlinie festgelegten Verfahren ausgewählt werden müssten.“

Dieses Ziel würde verfehlt, wenn der Begriff der „Gefahrenabwehr“ so zu verstehen wäre, dass er nur die Abwehr von Gefahren für die Allgemeinheit umfasst.

Die Ausnahme des Art. 10 lit. h) der RL 2014/24 gilt im Ergebnis sowohl für die Betreuung und Versorgung von Notfallpatienten in einem Rettungswagen durch einen Rettungsassistenten/ Rettungssanitäter, die unter den CPV-Code 75252000-7 (Rettungsdienste) fällt, als auch für den qualifizierten Krankentransport, der unter den CPV-Code 85143000-3 (Einsatz von Krankenwagen) fällt. Der qualifizierte Krankentransport fällt jedoch nur unter die Ausnahme, sofern er tatsächlich von ordnungsgemäß in Erster Hilfe geschultem Personal durchgeführt wird und einen Patienten betrifft, bei dem das Risiko besteht, dass sich sein Gesundheitszustand während des Transports verschlechtert.

Wer ist gemeinnützige Organisation?

Das OLG hat in seinem Vorlagebeschluss dargelegt, dass der nationale Gesetzgeber nicht entscheiden könne, dass es sich bei den bezuschlagten Anbietern nur deswegen um gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen handele, weil sie nach nationalem Recht als Hilfsorganisationen gemäß § 107 Abs. 1 Nr. 4 2. Halbsatz GWB anerkannt seien. Die Bedingungen, von denen das Unionsrecht die Einordnung als „gemeinnützige Organisation“ abhängig mache, seien nämlich mit Blick auf die Urteile vom 11.12.2014, Azienda sanitaria locale n. 5 „Spezzino“ u. a. (C 113/13, EU:C:2014:2440), sowie vom 28.1.2016, CASTA u. a. (C 50/14, EU:C:2016:56), oder zumindest mit Blick auf Art. 77 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 strenger.

Nach deutschem Recht kommt es für die rechtliche Anerkennung als Zivil- und Katastrophenschutzorganisation nicht notwendigerweise darauf an, ob der Organisation eine Gewinnerzielungsabsicht fehlt.

Der EuGH hat nun aber entschieden, dass Art. 10 lit. h) der Richtlinie 2014/24 dem entgegensteht, dass nach nationalem Recht anerkannte Hilfsorganisationen wie Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen als „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen“ im Sinne dieser Bestimmung gelten, soweit die Anerkennung als Hilfsorganisation im nationalen Recht nicht davon abhängt, dass keine Gewinnerzielungsabsicht vorliegt.

Organisationen oder Vereinigungen aber, deren Ziel in der Erfüllung sozialer Aufgaben besteht, die nicht erwerbswirtschaftlich tätig sind und etwaige Gewinne reinvestieren, um ihr Ziel zu erreichen, sind „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen“ im Sinne dieser Bestimmung. Inwieweit diese Voraussetzungen von den bezuschlagten Anbietern von Rettungsdienstleistungen erfüllt werden, ist wiederum vom vorlegenden OLG zu prüfen.

Hinweis

Für öffentliche Auftraggeber gilt somit, dass die Leistungen der Notfallrettung und des qualifizierten Krankentransports (unter den genannten Voraussetzungen) durch gemeinnützige Organisationen und Vereinigungen nicht unter das EU-Vergaberecht fallen.

Ob aber nur gemeinnützige Organisationen an einem Auswahlverfahren beteiligt werden dürfen, bleibt offen.

Kontakt

Maria Elisabeth Grosch
Tel: +49 30 208 88-1174

Dr. Hans-Martin Dittmann
Tel: +49 30 208 88-1014

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Dies ist ein Beitrag aus unserem Health-Care-Newsletter 1-2019. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.