BGH-Entscheidung zur Bedeutung von DIN-Normen für den Inhalt von Obhuts- und Verkehrssicherungspflichten

08.10.2019 – Heimträger muss geistig behinderte Menschen vor Verbrühen durch zu heißes Badewasser schützen

Die im Streitfall Beklagte ist Trägerin eines Wohnheims für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Die Klägerin, welche geistig behindert ist (Prader-Willi-Syndrom) und eine deutliche Intelligenzminderung aufweist, lebte dort seit März 2012. Sie nimmt die Beklagte auf Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen Verbrühungen in Anspruch, die sie in der Einrichtung erlitt.

Mit seinem Urteil vom 22.8.2019 – III ZR 113/18 hat der BGH entschieden, dass ein Heimbewohner, der dem Heimträger zum Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit anvertraut ist, erwarten kann, dass der Heimträger ihn vor einer Gefahrenlage schützt, wenn er selbst aufgrund körperlicher oder geistiger Einschränkungen nicht in der Lage ist, die Gefahr eigenverantwortlich zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung habe, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beeinträchtigten Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, könne nicht generell, sondern nur aufgrund einer Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden.

Soweit im Hinblick auf eine bestimmte Gefahrenlage technische Regelungen wie insbesondere DIN-Normen bestehen, können auch diese im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung zur Konkretisierung des Umfangs der Obhuts- und Verkehrssicherungspflichten des Heimträgers herangezogen werden.

Zwar haben DIN-Normen als technische Regel keine normative Geltung. Vielmehr handelt es sich um eine freiwillige Anwendung privater technischer Regelungen mit Empfehlungscharakter. Da sie jedoch die widerlegliche Vermutung in sich tragen, den Stand der allgemein anerkannten Regeln der Technik wiederzugeben, sind sie zur Bestimmung des nach der Verkehrsauffassung Gebotenen in besonderer Weise geeignet und können regelmäßig zur Feststellung von Inhalt und Umfang bestehender Verkehrssicherungspflichten herangezogen werden.

Diese Erwägungen gelten auch für die Bestimmung der Obhuts- und Verkehrssicherungspflichten eines Heimträgers, soweit in DIN-Normen regelungsbedürftig erkannte Gefahrenlagen beschrieben werden. Dabei kann bereits die bloße Existenz einer DIN-Norm für das Bestehen eines Risikos sprechen, dem durch Sicherheitsvorkehrungen zu begegnen ist. Um die daraus folgende Obhutspflicht zu erfüllen, muss der Heimträger, soweit dies mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand möglich und für die Heimbewohner sowie das Pflege- und Betreuungspersonal zumutbar ist, nach seinem Ermessen entweder die Empfehlungen der DIN-Norm umsetzen oder aber die erforderliche Sicherheit gegenüber der dieser Norm zugrunde liegenden Gefahr auf andere Weise gewährleisten, um Schäden der Heimbewohner zu vermeiden.

Insbesondere war der Inhalt der seit Juni 2005 geltenden DIN EN 806-2 („Technische Regeln für Trinkwasser-Installationen – Teil 2: Planung“) laut Auffassung des BGH in den Blick zu nehmen. Nach Satz 1 der Nr. 9.3.2 sind Anlagen für erwärmtes Trinkwasser so zu gestalten, dass das Risiko von Verbrühungen gering ist. Entsprechend wird in Satz 2 ausgeführt, dass an „Entnahmestellen mit besonderer Beachtung der Auslauftemperaturen“ (z. B. Krankenhäuser, Pflegeheime, Schulen) thermostatische Mischventile oder -batterien mit Begrenzung der oberen Temperatur eingesetzt werden sollten. Dabei wird in Satz 3 eine Temperatur von höchstens 43 °C empfohlen.

Der BGH führte weiterhin aus, dass es ohne Relevanz ist, dass die DIN EN 806-2 mit der Empfehlung einer Begrenzung der Wassertemperatur erst im Juni 2005 eingeführt wurde und primär die Planung von Trinkwasserinstallationen regelt, ohne die Nachrüstung älterer technischer Anlagen explizit vorzusehen. Denn nach dem BGH ist der DIN-Norm über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus allgemeingültig zu entnehmen, dass bei Warmwasseranlagen das Risiko von Verbrühungen besteht, wenn die Auslauftemperatur mehr als 43 °C beträgt, und deshalb in Einrichtungen mit einem besonders schutzbedürftigen Benutzerkreis spezielle Sicherheitsvorkehrungen zur Verminderung des Risikos von Verbrühungen erforderlich sind.

FAZIT

Das Urteil des BGH bestätigt und führt das Senatsurteil vom 28.4.2005 – III ZR 399/04 fort. Um die Obhutspflicht zu erfüllen, müssen Unternehmen, soweit dies mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand möglich und zumutbar ist, nach ihrem Ermessen entweder die Empfehlungen der DIN-Norm umsetzen oder aber die erforderliche Sicherheit gegenüber der dieser Norm zugrunde liegende Gefahr auf andere Weise gewährleisten. Dies gilt insbesondere für Krankenhäuser und Pflegeheime sowie Schulen, wo im Rahmen einer für das Wohl der Bewohner verantwortlichen Einrichtung Personen leben, die aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Verfassung nicht in der Lage sind, Gefahren zu beherrschen, und deshalb ein besonderer Schutz erforderlich ist. Darüber hinaus richtet sich das Maß der gebotenen Sicherheitsvorkehrungen bei einer technischen Anlage nicht ausschließlich nach den zum Zeitpunkt ihrer Errichtung bestehenden Erkenntnissen und dem damaligen Stand der Technik. Vielmehr ist es eine Frage des Einzelfalls, ob aus sachkundiger Sicht eine konkrete Gefahr besteht, dass durch die technische Anlage ohne Nachrüstung Rechtsgüter anderer verletzt werden können. Je größer die Gefahr und je schwerwiegender die im Falle ihrer Verwirklichung drohenden Folgen sind, umso eher kann die nachträgliche Umsetzung neuerer Sicherheitsstandards geboten sein.

Es ist Aufgabe der Leiter der betreffenden Einrichtungen, die Beachtung und Umsetzung der gebotenen Sicherheitsvorkehrungen auf die nachgelagerten Führungskräfte zu delegieren. Zur Vermeidung von Haftungsrisiken eignet sich nach unserer Auffassung hierzu insbesondere das Instrument der Übertragung von Unternehmerpflichten.

Marion Plesch
Tel: +49 30 208 88-1146